An dem zu Ende gehenden Jubiläumsjahre geziemt es sich wohl, noch einmal Rückblick zu halten und zu versuchen, nach bestem Wissen einen Teil unserer, durch den Krieg verlorenen Vereins-Chronik wieder zu erstellen.
Es soll an dieser Stelle nicht der Werdegang des Gesamt-Vereins aufgezeichnet werden, vielmehr habe ich mir die Aufgabe gestellt, die turnerische und sportliche Seite der verflossenen 70 Jahre noch einmal zu beleuchten, um dem Chronist des Vereins etwas für spätere Generationen in die Hand zu geben.
Es müssen schon ganze Männer gewesen sein, die sich die Turnsache im Geiste Jahns sehr zu Herzen gehen ließen und sich mit großer Hingabe und Treue der turnerischen Idee verschrieben hatten, sonst wäre der Erfolg nur ein vorübergehender gewesen und hätte keine 70 Jahre angehalten. Den Anfang machten jene 6 oder 8 beherzten Männer, die sich im Jahre 1885 auf der Treppe zum damaligen „Engel“, wo heute die Rathaus-Apotheke steht, zusammenfanden und beschlossen, die Turngemeinde ins Leben zu rufen. Man wählte einen Turnwart und lud ihm eine schwere Bürde auf, war doch außer einigen Mitgliedern nichts an Geräten geschweige denn eine Turnhalle vorhanden, man fing einfach
an. Die ersten Uebungsstunden wurden Garten „Zum Engel“ durchgeführt, die meist mit volkstümlichen Übungen wie Stemmen, Ringen, Steinstoßen usw. ausgefüllt waren bis man sich einige Turngeräte anschaffte und anfing, das Geräteturnen zu erlernen. Es mußte trotz mancherlei Schwierigkeiten gut vorwärts gegangen sein, die ersten Er-folge stellten sich auf kleinen Turnfesten ein. Bei einem Turnfest, das der TV 61, der bereits sein 25jähriges Bestehen feierte, durchführte, war Turner Karl Momberger unter den ersten Siegern zu finden. Momberger war auch einer der ersten Turnwarte; später übernahm dieses Amt Bernhard Habicht und Reeg.
Die erste eigene Turnhalle befand sich in der Luisenstraße, die heute noch steht, bis sich der Vorstand, der inzwischen zu einem ansehnlichen Verein entwickelten Turngemeinde, im Jahre 1912 entschloß, den damaligen Saalbau in der Poststraße zu kaufen. Von nun an ging es gut aufwärts; konnte doch Oskar Jaensch erstmalig einen Sieg im Sechskampf vom Deutschen Turnfest in Leipzig 1913 nach Isenburg bringen was einen großen Aufschwung brachte. Doch bald mußte das Turnen wieder eingestellt werden, da die große, schöne Turnhalle im 1. Weltkrieg als Lazarett diente
und erst 1919 ging der Turnbetrieb wieder weiter. Auch die damalige Freie Turnerschaft, die 1899 gegründet wurde und in der Waldstraße bei Gustav Freitag turnte konnte bis zum Kriegsausbruch 1914 eine gute Aufwärtsentwicklung verzeichnen und setzte 1919 ihre Arbeit wieder fort. Waren es in der Turngemeinde dann die Turner Karl Klein, Oskar Jaensch u. a. die das Männerturnen und auch die Turnerinnen leiteten, was sehr früh dann Hermann Schenk übernahm, das er bis heute, nach rund 40 Jahren noch leitet, so waren es in der Freien Turnerschaft die Turner Habicht, Momberger, Schnell, Wilh. Hässelbarth und der leider so früh verstorbene Hans Strumpf, die die aktiven Männer und Frauen zu einem
recht ansehnlichen Leistungsniveau erzogen, was beiden Vereinen sehr viele schöne Erfolge einbrachte. Es wurden schon sehr früh außer den alljährlichen Gauturnfesten das Feldbergfest und später andere Bergfeste wie Kirner Bergfest, Spicherer Bergfest, Loreley, Hoherodskopf und das Landskronfest in Oppenheim sowie alljährlich die Opel-kampfspiele in Rüsselsheim mit großem Erfolg besucht in steter Begleitung des damaligen 1. und späteren Ehren-Vorsitzenden Adolf Müller sowie der treuen Fahnendeputation Heinrich Friedrich, Heinrich Berdel und Jakob Dietz, des Spielmannszuges und einer stattlichen Zahl von Festbesuchern. Wer wollte die schönen Gauturnfeste in Gießen, Aschaf-fenburg, Darmstadt 1927 und nicht zuletzt die Deutschen Turnfeste in Mün-chen 1923, Stuttgart 1933 und Breslau 1938, die, wenn auch inzwischen eine andere Zeitepoche angebrochen war, doch turnerisch gesehen, Höhepunkte darstellten. Sie legten den Grundstein für die turnerische Arbeit der nachfolgenden jüngeren Generation, in der unter dem leuchtenden Beispiel des 1. Oberturnwartes Karl Klein und Frau-enturnwartes Hermann Schenk die Turner Franz Anthöfer, Franz Bauer u. a. die Aemter übernahmen. Auch sollen nicht vergessen werden die große Tra-dition der Waldläufer, allen voran Hans Schäfer als Gau-Waldlaufmeister einiger Jahre mit seiner hervorragenden Mann-schaft eines Karl Schmeiß, Wilhelm Keim, Otto Schwieder, >lbert und Jean Streb u. a., die ebenso wie die Schwim-mer mit Christian Wenzel bei den Stromschwimmen in Gernsheim (Rhein) jahrelang von Erfolg zu Erfolg eilten.
Bei den Volksturnern war es nicht an-ders, wer könnte die schönen Sportfeste vergessen, wo wir überall siegreich blieben, ob es in Würzburg beim Frankenwartefest. in Rüsselsheim den Wander-preis zu holen galt, den wir zweimal errangen, es waren die Turner Franz Bauer, Christoph Wenzel, Karl Chantre, Georg Mack und Alfred Geiß, oder auf dem Feldbergfest bei Regen und Nebel bestehen mußten. Es waren immer echte
Turner und sind es auch zum allergrößten Teil auch heute noch. Sie waren nicht wie es heute so sehr gefordert wird, Spezialisten auf irgend einem Gebiet, sondern Turner auf allen Gebieten, spielten doch fast alle so nebenbei auch jahrelang Handball und Fußball. Diese Erfolgsserie langer Jahre beruht auf einer tiefen echten Turnkameradschaft, die alle Turner gleich welcher Sportart er-faßte und den Samen zur Blüte brachte
der ihnen die turnerische Idee Jahns, Friesen, Fichte, Max Schwarze und Ferd. Götz in die Herzen versenkte. Da sind noch die Höhepunkte der reinen Geräteturner zu betonen die alle im gleichen Geiste erlebt wurden, es waren die zahlreichen Geräte-Mannschaftskämpfe mit den Turnern Franz und Jean Bauer, Fr. Linke, Julius Euler, Hermann Bader, Hch. Passet, Karl Henrich, Alwin Curth u. a. Leider verloren wir dabei einen der
1. derartigen Kämpfer, unseren Ernst Schuster durch Unglücksfall 1926 und wollen bei dieser Rückschau seiner gedenken. Gleichzeitig muß erwähnt werden, daß diese erfolgreiche Generation schon in den Schülerturnstunden ihre Schulung fand bei der sich die Turner Oskar Jaensch, Adam Batz, Jak. Dietz, Willi Artmann u. a. große Verdienste erwarben.
Leider kam nun mit dem unglücklichen Ausgang des 2. Weltkrieges der völlige Zusammenbruch, unsere schöne große Turnhalle samt Vorderhaus versank in Schutt und Asche. Erst mit Genehmi-gung der Besatzungsmächte durften die Vereine wieder turnen und so fingen wir dann bei Gräfenecker ganz klein an, nachdem wir uns einige Geräte aus den Trümmern notdürftig zusammenbauten.
Wenn auch die aktiven Turner und Turnerinnen zusammengeschmolzen waren — „es glühte doch ein guter Funken noch in der Asche fort“. Unter dem 1.
Vorsitzenden Franz Anthöfer, Ehrenvors. Adolf Müller und einigen weiteren unverdrossenen Turnern fand der Verein wieder seinen Halt und es ging
langsam aber stetig aufwärts. Neue Leiter übernahmen die Männerturnstunde, Willi Groddeck, Karl Henrich, Emil Streb und Fritz Linke, dem man dann als Oberturnwart den gesamten Turnbetrieb übertrug. Die Turnerinnen und Frauen übernahm wieder Hermann Schenk, den Fußballsport Franz Anthöfer und Hans Schäfer und so konnten wir nach einigen Etappen wieder eine kleine Turnhalle erstellen, wobei sich alle Turner unter großen Opfern beteiligten. Bereits nach kurzer Zeit stellten sich wieder die ersten Erfolge auf Festen wie Weilbach, Lorsbach, den ersten Gauturnfesten und dem 1. Landesturnfest in Kassel 1950 ein. Auch die Feldbergfeste auf der Stierstädter Heide brachten schöne Erfolge. Die Turnerinnen übertrugen wir Turnlehrerin Martha Kill, welche sie in steter Aufwärtsentwicklung hält, so daß wir heute auf eine starke Turnerinnenabteilung stolz sein können, zumal das Geräteturnen in guten Händen von Männerturnwart Karl Henrich liegt. Im Jahre 1953 erfolgte der Zusammenschluß mit der früheren Freien Turnerschaft, welche sich auch auf die Turnabteilung günstig ausgewirkt hat. Unter der Leitung von
Jugendleiter Heinz Rach wachsen die Kinder-Abteilungen rasch an. Den größten Erfolg nach dem Kriege brachten uns das Deutsche Turnfest in Hamburg 1953, wo Turner Karl Henrich und Fritz Linke, die Turnerinnen Marlies Mack, Hildegard Müller und Anni Mack und die Schwimmer Heinz Ziegler, Otto Lutz und Ph. Schneider Sieger wurden.
Auch das 2. Landesturnfest in Darmstadt 1955 brachte zahlreiche Siege die alle an unsere neue Vereinsfahne, die uns das Jahre 1955 schenkte, geheftet werden konnten. So wollen wir hoffen, daß das neue Jahr unsere Aufwärtsentwicklung nicht hemmen möge und die Arbeit der schweren Jahre des Wiederaufbaues ihre Früchte tragen mögen im Sinne Friedrich Ludwig Jahns. Glückauf zum neuen Jahre.
Fr. L.