Die Freie Turnerschaft
Im Neu-Isenburger Anzeigeblatt vom 28.06.1899 findet sich der Eintrag: Dieser Tage hat sich dahier einneuer, freier Turnverein gebildet …
In der gleichen Ausgabe wirbt die Freie Turnerschaft um Mitglieder.
Der neue Verein war sehr rührig, denn bereits im August 1899 hatte man alle Formalitäten erledigt und auch Aufnahme in den Sportbund gefunden. Andernfalls wäre es nicht möglich gewesen, an einem allgemeinen Sportwettbewerb in Niederroden teilzunehmen, den die Turner recht erfolgreich absolvierten. Im September des gleichen Jahres findet schon das sogenannte Abturnen statt mit der Veröffentlichung der Siegerliste.
Das Vereinslokal befand sich seit Bestehen im „Schweizer Hof“.
Der Verein entwickelte sich gut. Neben den Fachabteilungen gab es auch einen Musikzug.
Aber erst im 23. Jahr seines Bestehens verfügte er über einen Sportplatz mit Umkleide- und Geräteraum am Buchenbusch.
Dieser gute Anfang wurde im Jahre 1933 abrupt unterbrochen.
Da die Freie Turnerschaft weltanschaulich ziemlich weit links stand, war sie den neuen Machthabern sofort ein Dorn im Auge.
In einer im wahrsten Sinne des Wortes Nacht- und Nebelaktion rückte man dem Verein zu Leibe. Hier in Auszügen der Bericht eines Zeitzeugen:
„Nach der Machtergreifung der NSDAP im März 1933 war es unmöglich, uns nach unserem Vereinsvermögen, Turngeräten und sonstigen Utensilien umzusehen. In unserer Sporthalle wurden Türen und Fenster eingeschlagen, die dort gelagerten Geräte vollständig zertrümmert und der Plünderung und Zerstörung preisgegeben.
In unserem Vereinslokal (Volkshaus Neu-Isenburg) waren Geräte des Spielsmannszuges sowie Vereinsschränke mit vielen Theatergarderoben untergebracht, welche gleichfalls der Plünderung preisgegeben wurden. Ferner wurde auf dem Boden der Sporthalle ein Feuer angezündet.
Unter Androhung der berühmten „Abreibungen“ mußten Fahnen u.a. bei der Leitung abgegeben werden. Es war uns unmöglich, vor der Zerstörungswut der Leute, die in Neu-Isenburg eingesetzt waren, irgend etwas zu retten oder in Sicherheit zu bringen.“
23 Jahre hatte es gedauert, bis der Verein ein Vereinsheim hatte, und nur 11 Jahre konnte man sich daran erfreuen. Besonders schmerzhaft war dies, weil der größte Teil der Arbeit in Eigenhilfe in der Freizeit der Mitglieder erledigt wurde. In einer Nacht wurde das gesamte Vereinsvermögen zerstört.
Der Zeuge selbst mußte sich ein halbes Jahr lang täglich zweimal zur Kontrolle melden. Ein offizielles Verbots- oder Auflösungsdekret hat der Verein nie erhalten.
Nach dem Krieg fanden sich die Mitglieder erneut zusammen, und auch die sportlichen Erfolge stellten sich erneut ein. Aber trotz aller Mühen gelang es nicht, den Verein wirtschaftlich auf gesunde Beine zu stellen.
Mit Schreiben vom 10.08.1953 schlug die Vereinsführung der Freien Turnerschaft dem Vorstand der Turngemeinde eine Fusion vor. Bereits am 29. August trafen sich die beiderseitigen Vorstände im Gasthaus Rüssing, Hessischer Hof, in der Waldstraße.
Die Verhandlungen zu dieser Vereinigung wurden in einer offenen, kameradschaftlichen und sachlichen Atmosphäre geführt. Mit den sportlichen Leistungen der beiden Vereine war man durchaus zufrieden. In finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht konnte jeder Verein zwar für sich bestehen, von gesunden Verhältnissen konnte aber nicht die Rede sein. Über die Modalitäten der Fusion wurde man sich schnell einig.
Beide Vereine luden ihre Mitglieder für den 7. November 1953 zu einer gemeinsamen Generalversammlung ein, in der der neue Vorstand gewählt wurde. Und am 14. November 1953 wurde die Fusion zur Turn- und Sportgemeinschaft 1885 e.V. Neu-Isenburg mit einem Festabend in der Halle des Turnvereins besiegelt.
Als Rechtsnachfolgerin der Freien Turnerschaft führte die TSG noch einen 6 Jahre dauernden Schriftwechsel mit den zuständigen Behörden, um für die Verluste, die durch die NSDAP verursacht worden waren, eine Entschädigung zu erhalten. Dies gelang zum Schluß auf dem Wege eines Vergleichs mit der Behörde beim Regierungspräsidium in Darmstadt.
Wir danken dem Stadtarchiv Neu-Isenburg für die Möglichkeit der Nachforschung und für die zur Verfügung gestellten Bilder.
Christel Passinger